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Ich schlenderte über den Viktualienmarkt und betrieb Frühlingsforschung. Zum Glück war alles bei altem geblieben: Die Frühlingsfrauen bei ihrer bombastischen Bein-Bauch-Brust-Stabreimparade. In diesem Jahr gab es keinen Kirchentag in der Stadt, die Bienen blümelten und die Vögel vögelten – es herrschte Frühling. Drei braunbusige Prinzessinnen aus Bora Bora mit Goldkettchen an nackten Fußknöcheln, an denen kleine Arschherzchen hingen, lutschten beim Pferdemetzger an heißen Knackern rum – Poesie pur! Nicht einmal mit seinen 2010 Jahren war das Christentum unserer Natur gewachsen. Wie waren sinnlich geblieben!
„Jaromir?“ Die Sonne hatte sich nackt ausgezogen, doch der Mann steckte in einem dunklen Anzug – als wollte er bei der Regierung für die Hypo Real Estate etwas Geld schnorren. „Bist du’s?“, sagte er auf Tschechisch.
„Servus! Lange nicht gesehen!“, antwortete ich in unserer Muttersprache, obwohl mir dieser Tscheche nicht mal ansatzweise bekannt vorkam. Doch bei Bankangestellten bin ich immer höflich, du weißt ja nie, wann sie dich brauchen können.
„Du musst uns besuchen!“, sagte er. „An Alena erinnerst du dich auch, oder?“
Ach, du Scheiße! Alena? Ein Lastwagen voller Erinnerungen schnitt Serpentinen auf einer Landstraße in meinem Hirn! Alena aus dem Sammellager? Die hatte ich seit 26 Jahren nicht gesehen. „Alena, mit der ich…“, sagte ich, doch bei einem Blick in sein erwartungsvolles Gesicht wurde mir klar, dass ich nicht mit der ganzen Wahrheit rausrücken konnte. „Eh… Alena, mit der ich damals im Lager deutsche Vokabeln lernte?“
„Wir haben geheiratet!“, sagte er. „Besuchst du uns? Alena würde sich freuen!“
Auch wenn ich nicht ganz sicher war, ob eine verheiratete Frau mittleren Alters an eine Kiste aus ihrer Jugend erinnert werden wollte, die weitgehend im Bett stattgefunden hatte, rückte ich am Samstag in ihrer Villenwohnung in Bogenhausen an. Mit einem Blumenstrauß und einer Flasche Sliwowitz in den Händen.
Alena sah ziemlich gepflegt aus! Nur der Mercedes-Stern fehlte auf ihrer Motorhaube. Schon in der Tür stürzte sie sich auf mich, so dass ich nicht wusste, wohin mit den Händen. Plötzlich fühlte ich mich wie damals, als ich mir das Rauchen abgewöhnen wollte. Was sollte ich sagen, verdammt? „Rauchst du noch?“, fragte ich. Ohne freilich überlegt zu haben, dass das Rauchen im Tschechischen auch Blasen heißt.
„Ja!“, lachte sie dreckig und hauchte mir ins Ohr: „Ohne Filter!“
In der Wohnung glänzte es und strahlte. Henry Millers Wendekreis des Krebses fiel mir ein: „Wir leben in Villa Borghese. Hier gibt es keine Spur von Schmutz, keinen Stuhl, der nicht auf seinem Platz steht. Wir sind hier ganz allein und wie Tote.“
„Kannst du Schnapsgläser vorbereiten, Alena?“, sagte der Typ mit dem Blick auf meinen Sliwowitz.
„Ja, Karel!“, sagte Alena, und so wusste ich endlich, wie er hieß.
Karel führte mich ins Wohnzimmer. Wahnsinn! Noch eine Frau. Mit der hatte ich noch nie Erfahrungsaustausch gepflegt, sie war ja etwa 20 Jahre jünger als Alena. Sie lachte… nein sie strahlte, und plötzlich stand sie da, strandbraun, mit gelben Blumen hinter den Ohren und zwischen den Zehen. Wasser tropfte aus ihren langen Haaren. Eine Wasserfrau! Keine Ahnung wie sie die Umwandlung herbeigeführt hatte – wohl ziemlich durchtrieben, die Kleine! „Susi arbeitet bei uns in der Bank!“, sagte Karel „Sie hat ein Buch von dir gelesen!“
„Welches Buch?“, fragte ich.
„Fifi poppt den Elch!“, sagte Susi.
„Chochocho!“ Karels Lachen klang, als ob ihm jemand eine Penisvergrößerung angeboten hätte.
„Du hast dich überhaupt nicht geändert!“, sagte Alena. „Immer noch diese pubertären Ideen? Bist du echt Schriftsteller?“
„Nur so ’n kleiner Schriftsteller!“, beruhigte ich sie. „Nichts wofür man sich schämen müsste!“
„Schau dich nur um, was man sich leisten kann, wenn man ordentlich arbeitet!“, sagte Karel.
„Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche langen!“, sagte Susi. Weise war sie also auch.
„Was?“, sagte Karel. „Dieser Teppich hat 8 000 Euro gekostet!“ Er zeigte auf einen weißen langhaarigen Teppich unter unseren Füßen.
„Ist der aus Angorakatzenfell?“, fragte ich.
„Hohoho!“, gurgelte sich Karel wieder einen Lacher aus dem Hals. Als hätte ich einen Witz gemacht. „Du bist wirklich immer der Alte! Kommt! Wir essen in der Küche. Der Teppich ist sehr schmutzanfällig.“
„Dürfen wir nicht im Wohnzimmer essen, Karel?“, fragte Alena. „Wenn wir schon solche Gäste haben?“
Karel inspizierte meinen Sliwowitz. „Der ist aus den teuersten Zwetschgen in Mähren gebrannt!“, sagte ich.
„Na, gut!“, sagte Karel. „Aber passt bitte, auf!“
Während Alena in der Küche mit den Töpfen hantierte, unterhielt uns Karel mit spannenden Geschichten darüber, was die einzelnen Möbelstücke gekostet hatten. Welche Aktien hast du?“, fragte er mich am Ende seines Monologs.
„Beate Uhse!“, log ich schlau. Ich hatte im Leben schon jeden unbrauchbaren Blödsinn gekauft: Watschelblechenten zum Aufziehen, einen nackten und ziemlich heißen Schutzengel aus Porzellan, polnisches Bier, doch Aktien gehörten nicht dazu.
„Der Börse kannst du auch mental beikommen!“, sagte Susi. „Ich versuche in der Bank durch auf den Börsencomputer telepathierte Tippfehler, einen kleinen Totaltagescrash in den Gang zu bringen.“ Dieses freimütige Bekenntnis seiner Mitarbeiterin verschlug Karel die Sprache. Ich zwinkerte Susi zu, doch plötzlich hockte sie in einem Guerillatarnanzug da und brachte Karels Computer und Handys zum Schwitzen, die Lämpchen dran blickten unter der Attacke der Furcht erregenden Anti-Technik-Aktivistin ihr Todeslied. Besser ich machte mein Handy aus und den Sliwowitz auf. Und sogleich schwebte Alena mit dampfenden Tellern herein, zu meinem Erstaunen nicht mit irgendwelchen Kohlrabibouletten oder Sojawürschteln beladen, war doch der maßlose Surrogatverzehr die traurige Begleiterscheinung des fortgeschrittenen Kapitalismus. Auf den Tellern protzten Steaks mit jeweils einem Spiegelei drauf – gute Grundmauer, um darauf aus dem Sliwowitz ein schönes Luftschloss zu bauen. Susi und ich hockten auf dem Sofa. „Ihr seid die ersten, die hier im Wohnzimmer essen dürfen!“, sagte Karel.
„Unter der Woche bedecken wir den Teppich mit Plastikfolie!“, sagte Alena.
„Der Ernst des Lebens ist auch nur ein Witz!“, sagte Susi und ging mit Messer und Gabel brutal auf ihr Spiegelei los. Und wieder spielte sie ihre Spielchen mit mir und verwandelte sich in eine Amazone im Urwald! Einen Tigerzahn zwischen den nackten Brüsten hängend. Einen Bogen in der Hand! Mann, oh, Mann – wenn die dich unter ihre Gabel kriegt… Plötzlich kreischte von draußen ein Rettungswagen. Ich guckte Susi fasziniert bei ihrem Kampf mit dem Spiegelei zu. Und schon schoss das Spiegelei aus Susis Teller wie ein Skibob und landete unter dem Tisch auf dem Angorateppich zwischen Susis und meinen Füßen. Klar mit dem Eigelb nach unten. Susis Blick huschte zu Karel und Alena, die zum Glück mit dem Lärm draußen beschäftigt waren. Mit einem durchtriebenen Grinsen im Gesicht guckte Susi mich an und schob das Spiegelei mit dem Fuß unters Sofa. Nur eine breite Eigelb-Spur blieb auf dem weißen Teppich. Unter dem Wohnzimmertisch versteckt. Susi hat dem Börsenfreak Karel seine FDP-Fahne direkt unter die Füße gemalt.
„Ich hab mein Spiegelei unter dem Sofa liegen gelassen!“, sagte ich Karel beim Abschied. „Vielleicht kannst du’s mir fürs nächste Mal im Kühlschrank aufheben.“ Doch das nächste Mal kam nie.
„Du bist ein Gedicht, das sich wandelt!“, sagte ich draußen zu Susi.
„Pass nur auf, Poet!“, sagte sie. „Bin ziemlich durchtrieben!“
Unberechenbar ist Susi auch. Sie hat in der Bank gekündigt und schreibt jetzt taoistische Märchen, die vor neuen Wortschöpfungen strotzen. Zum Beispiel „Süße Träumerung“ – ein Märchen über eine Nixe am Weiher des kreativen Chaoismus. Mich verabschiedet sie mit ihrer „Dicken Drückerung“, und die ist wohl auch das Beste, was man in dieser schönen neuen materiellen Welt bekommen kann.